Wie Nardwuar Interviews mit ungewöhnlichen Fragen revolutioniert

Am 14. Dezember 2018 findet das Winter Breakout Festival in Vancouver, Kanada statt. Rapper Lil Uzi Vert gehört zu diesem Zeitpunkt zu den angesagtesten Künstlern in den Staaten. 2017 hatte er mit „XO Tour Llif3“ einen der größten Rap-Hits des Jahres, der auf seinem mittlerweile mit Doppel-Platin ausgezeichneten Album „Luv is Rage 2“ enthalten ist. Doch nach seinem Auftritt hat er noch nicht Feierabend.

An seiner Garderobe wartet ein älterer Herr mit rot-karierter Schottenmütze. Unter seiner Mütze schauen wuschelige, lange Haare heraus. Von Kopf bis Fuß ist er in einen ebenfalls rot-karierten Anzug der Marke Tiger of London gekleidet. Sogar seine Nike Air Tuned Schuhe haben die auffällige Musterung. Er darf eintreten.

Der auffällig gekleidete Mann ist der Musik-Journalist Nardwuar the Human Serviette. Eigentlich heißt er John Ruskin. Er ist an diesem Abend dort, um den Rapstar zu interviewen. Doch nach nur wenigen Minuten rennt der Rapper aus Philadelphia aus dem Backstage, um den Fragen von Ruskin zu entkommen. Der Kanadier und sein Kamerateam rennen bis zum Parkplatz filmend hinter ihm her. Das anschließend auf YouTube veröffentliche Video zu diesem sehr kurzen Interview hat heute über acht Millionen Aufrufe. Warum?

Nardwuar ist einer der bekanntesten Musikjournalisten, denn er hat einen eigenen Interview-Stil erfunden. Seine Interviews sind nicht die nächsten ellenlangen 08/15-Gespräche mit Musiker:innen mit den immer selben Fragen, um ihre neueste Platte zu bewerben. Der Kanadier, der sein Interesse für Interviews und Journalismus durch seine Mutter erhielt, kann durch seine außerordentliche Recherche und Vorbereitung einzigartige Fragen stellen. Seine Recherchewege verrät er nie. Der Kanadier hört nie auf zu recherchieren: „Die Recherche ist nie abgeschlossen. An dem Tag, an dem ich alles recherchiert habe, sollte ich aufhören. Es gibt immer etwas zu finden“, sagte er im Interview mit Vulture

Der Internet-Publikation The Outline sagte er: „Es ist die Aufgabe des Interviewers, den Interviewten spannend wirken zu lassen. Hinterher kann man dann nicht sagen: ´Oh, die Person war langweilig´.” Daher ist es sein Anspruch, keine gewöhnlichen Interviews zu führen. Durch seine unkonventionelle Art schafft er es, besser als seine Kolleg:innen die Künstler:innen zu brechen. Vermutlich heißen seine Interviews deshalb für gewöhnlich „Nardwuar vs. …“. Der 56-Jährige kämpft mit den Künstler:innen, um deren Persönlichkeit herauszukitzeln. Sie sind von seinem Stil überrascht und zeigen in ihren Antworten eher ihre wahre Persönlichkeit. So entstehen wirklich tiefe Einblicke über die Künstler:innen-Fasade und abgedroschene PR Antworten hinaus. Die Stars wirken für die Zuschauer:innen so menschlicher. 

Einige Monate vor der Veröffentlichung seines Breakout-Albums “Good Kid, M.A.A.D City” im Jahr 2012, interviewte der Journalist den damals 24-jährigen Kendrick Lamar. Der aus Compton stammende Rapper ist bereits verwundert als Nardwuar nach seinem Hangout-Spot aus der Jugend an der Comptoner Ecke Rosecrans Ave / Central Ave zwischen der Drogerie Rite Aid und seinem Lieblingsrestaurant Louisiana Fried Chicken fragt. Lamar ist zusätzlich erstaunt über den Interviewer, denn er weiß, dass die Filiale der Fast-Food-Kette mit kugelsicheren Fensterscheiben ausgestattet ist. Doch der Rap-Musiker ist vollends verwirrt, als der Kanadier nach Kanin Day fragt. Dabei handelt es sich nämlich um einen Schulfreund aus der achten Klasse, mit dem er das Rappen begann.


Ruskin beginnt 1987 als wöchentlicher Host seiner eigenen Radioshow bei CiTR-FM, dem Studierendenradio der University of British Columbia in Vancouver. Diese hostet er bis heute jeden Freitag zwischen 15.30 Uhr und 17 Uhr. Über die Jahre macht der 1968 geborene Interviews mit Künstler:innen aus den verschiedensten Genres. Weltweit bekannt wird er allerdings erst durch die Erfindung von YouTube, wo er ab 2006 auf seinem eigenen Kanal Interviews als Video hochlädt. Vor allem seine Gespräche mit Newcomer:innen der Hiphop-Szene bekommen regelmäßig millionenfach Aufrufe.

Den Fragen des in Vancouver geborenen Interviewers entkommen seine Gäste nur schwer, sie müssen dafür schon rennend die Situation verlassen. Der Musikenthusiast steht meist sehr dicht vor seinen Gästen, hält ihnen sein Mikrofon direkt an ihr Kinn und schaut ihnen tief in die Augen. Ihm scheint nichts unangenehm zu sein. 

Für gewöhnlich laufen die Interviews nach einem wiederkehrenden Muster ab. Nardwuar begrüßt seinen Gast mit der Frage „Who are you?“, gefolgt von „From?“. Danach überreicht er Geschenke, die in irgendeiner Form mit der Persönlichkeit oder der Vergangenheit des Gastes zu tun haben. Danach befragt er die Musiker:innen zu Fakten aus ihrer Vergangenheit, die der Öffentlichkeit bisher eigentlich nicht bekannt waren. Eine häufige Reaktion ist zum Beispiel: „How the fuck do you know this?” Deshalb äußerten die Rapper Jeezy und Tyler, The Creator bereits die Vermutung, er gehöre der Polizei oder dem FBI an.

Der Unterhaltungswert der Interviews liegt nicht nur in dem Gespräch zwischen dem Interviewer und seinen Gästen. Nardwuar versteht es in seinen Videos eine ganze Menge Humor zu transportieren, indem er sich nicht zu ernst nimmt. Die Interviews enden immer, wenn Ruskin zu seinem Gast „Keep on rocking in the free world!” sagt und danach anfängt die Melodie des Songs “Shave and a Haircut“ zu singen: „Doot doola doot doo“. Der Gast muss dann die fehlenden zwei Wörter in das Mikrofon singen. Danach schaut er lachend in die Kamera und erstarrt, was seine Interviewpartner vollends verwirrt.

Diese Art mag auf Menschen nervig und respektlos wirken, wodurch er immer wieder aneckt. Sänger Sebastian Bach der Band Skid Row warf aus Wut das Videoband des Interviews gegen die Wand und klaute Nardwuars Mütze, wie der Interviewer im Gespräch mit NYLON verrät. Der Großteil seiner Interviewpartner:innen verstehen aber warum Nardwuar Interviews so führt, wie er sie führt. Auch Lil Uzi Vert und er vertrugen sich offenbar nach dem Interview 2018 wieder. Letztes Jahr führten sie erneut ein gemeinsames Interview. Außerdem war Nardwuars „Doot doola doot doo“ auf Uzis Hit „Futsal Shuffle 2020“ gesamplet. Was eine Ehre!