„Wer willst du wirklich sein?“ – Fragen können Leben verändern, Denkprozesse anstoßen und Heilung bewirken. Katrin Nüchtern, Kreativtherapeutin, verrät, wie die richtige Frage Türen öffnet.
Katrin Nüchtern, 42, ist Kunsttherapeutin und Sozialpädagogin mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit Psychischen- und Suchterkrankungen, Pflegeeltern sowie der Kinder- und Jugendhilfe. Seit 2020 führt sie ihre eigene Praxis und konzentriert sich dabei zunehmend auf das Thema Neurodivergenz (ADHS, Autismus, Hochsensibilität). Im Gespräch gibt sie Einblicke in ihre Arbeit und die besondere Bedeutung von Fragen in der Therapie.
Warum stellen wir Fragen?
Fragen können dem Verständnis dienen, so setze ich diese auch oft ein. In der Gestaltung stelle ich viele Nachfragen, das erleichtert mir, mich in die Perspektive des Klienten zu versetzen. Fragen können auch genutzt werden, um die Gedanken in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das nutze ich therapeutisch, wenn ein Thema vertieft werden soll.
Welche Rolle spielt die Intuition beim Fragenstellen und vertrauen Sie darauf, dass sich die richtigen Fragen im Moment ergeben?
Ich vertraue auf den Prozess, da ich gut ausgebildet bin. So kann ich der Intuition und dem Gefühl der Zwischenleiblichkeit (Begriff der Psychologie; wechselseitige Wahrnehmung zwischen Menschen und sozialen Interaktionen) vertrauen und auf Techniken zurückgreifen, die ich im Rahmen von meinen Fortbildungen erlernt habe. Das gibt mir Sicherheit und überträgt sich auf die Klienten.
Gibt es „gute“ und „schlechte“ Fragen?
Bei dieser Frage muss ich zuerst an Alltagsfragen denken und gar nicht direkt an den Kontext der Kunsttherapie. Es gibt auf alle Fälle gute und schlechte Fragen, denn alle Fragen, die – in Anführungsstrichen – gut gemeint sind, aber erniedrigend, besserwisserisch oder Ähnliches gestellt werden, können auch für sich behalten werden. Im therapeutischen Kontext sollten solche Fragen auf keinen Fall gestellt werden, im echten Leben natürlich auch nicht, aber da passiert das manchmal schneller als man denkt.
Welche Dynamiken entstehen zwischen Fragendem und Befragten im therapeutischen Kontext?
Im therapeutischen Setting ist Beziehung sehr wichtig, vor allem, wenn für die Person problematische und tiefgehende Themen bearbeitet werden. Die besten Fragetechniken sind wertlos, wenn kein Vertrauensverhältnis untereinander besteht.
Welche Fragen stellen Ihnen Ihre Klienten am häufigsten? Gibt es wiederkehrende Muster oder Themen?
Häufig gestellte Fragen sind: Was kann ich machen, dass das und das sofort endet, aufhört verschwindet. Das kann ich nicht,denn Veränderung ist ein Prozess. Das erkläre ich und biete an, natürlich begleitend zur Seite zu stehen. Veränderung verläuft nicht linear, sondern wellenförmig.
Fragen Sie, um eine Antwort zu bekommen – oder um etwas zu bewirken?
Sowohl als auch, manchmal frage ich Fragen, um eine Antwort zu bekommen und manchmal frage ich Fragen, um etwas zu bewirken. Zu Beginn stelle ich häufig Verständnisfragen zur Thematik und auch zu dem Werk, das gestaltet wird. Während des Prozesses nutze ich häufig Fragen, um etwas zu bewirken. Im Prozess würde ich sagen, die Reflexion und das, was die Frage auslöst, ist viel bedeutender als die Frage an sich und die tatsächliche faktische Antwort. Das gleiche gilt auch für die Kunst, sie kann als Ausdruck genutzt werden, meine Aufgabe ist es aber nicht, das zu interpretieren, es dient als ein Hilfetool, eben genau wie die Fragen, die ich stelle.
Gibt es Fragen, die Sie bewusst vermeiden? Welche Arten von Fragen könnten mehr schaden als nützen?
Ich versuche, keine Suggestivfragen zu stellen. Alles, was erniedrigend oder demütigend ist, wird nicht gefragt. Dennoch gibt es einen würdigen Rahmen für die Erlebnisse der Klientinnen, die demütig oder entwürdigend waren.
Inwiefern regen Fragen schöpferisches Denken an?
Eine Frage in meinem Rahmen ist kreativ, wenn sie manchmal paradox erscheint oder wenn wir von Sprache einen Material- oder Perspektivwechsel machen, wenn die Frage im Hirn des Gegenübers „Outside the Box“ ist. Wenn beispielsweise ein/e Klient/in im Gespräch erwähnt, das fühlt sich so eng an in der Brust, lautet die darauffolgende Frage so was wie: Wie sieht das in Form und Farbe aus? Dann würde ich an den Materialschrank gehen und die Dinge herausholen, so dass die Klienten das auf Papier bringen und einfach in sich hinein fühlen können, ohne die passenden Worte zu kennen.
Wie gehen Sie mit unbeantworteten Fragen um?
Unbeantwortete Fragen sind total okay. Keine meiner Fragen muss beantwortet werden. Unbeantwortete Fragen können auch heilsam sein, da sie dennoch einen inneren Prozess anstoßen. Ich habe auch die Möglichkeit, Fragen, die nicht zu beantworten sind, in Material beantworten zu lassen. Ich lasse den Klienten die freie Wahl, ob sie Papier, Stift, Sand, Steine, Knete etc. verwenden wollen und die Frage ohne Wort beantworten. Dann kann die Frage verbal unbeantwortet bleiben oder wir versuchen gemeinsam Worte zu finden.
Welche Fragen stellen Sie sich selbst? Welche Rolle spielen Selbstfragen für Ihre persönliche und berufliche Entwicklung?
Ich frage mich ganz oft, wer ich sein will. Also wie will ich sein? Für mich und für andere und versuche mich ein bisschen weniger zu fragen, wie wollen andere mich haben. Ich stelle mir selbst viele Fragen und nutze deshalb auch Supervision, um in Austausch zu gehen, damit die Fragen sich nicht nur in meinem eigenen Kopf um sich selbst drehen. Manche Sachen kriege ich davon alleine hin, indem ich einfach Sachen versuche auszuprobieren. Aber ein großer Teil ist schon, dass ich eigene Themen aufgearbeitet habe, die es mir einfacher machen mehr ich zu sein und weniger das, was andere haben wollen.
Wann ist es besser, keine Frage zu stellen? Gibt es Situationen, in denen Schweigen mehr bewirkt als jede Frage?
Manchmal pausieren Klienten und es entsteht ein Schweigen. Das ein bisschen in die Länge zu ziehen kann den Prozess des Nachdenkens und Nachwirkens bei meinem Gegenüber anregen und so eine Änderung vorantreiben. Ich zerbreche das Schweigen, wenn ich bemerke, dass der Klient, die Klientin das gar nicht mehr gut ertragen kann. Es gibt auch Momente, in denen es besser ist, keine Frage zu stellen, sondern den Prozess wirken zu lassen. Hier setze ich gezielte Schweigepausen oder gemeinsames Atmen.
Wenn Sie eine einzige Frage an alle Menschen stellen könnten, welche wäre das? Gibt es eine universelle Frage, die Ihrer Meinung nach jeder für sich beantworten sollte?
Ich finde die Frage: “Wer will ich wirklich sein?”, unabhängig von der äußeren Perspektive, ist eine Frage, die sich jeder Mensch stellen sollte. Dennoch ist es keine Frage, die ich direkt an alle Klienten stelle, da dies eine sehr mächtige Frage ist und auch auf Leere stoßen kann. Eine Frage die ich allen Klientinnen stelle ist: Was ist Ihnen wichtig im Rahmen der Zusammenarbeit und was darf ich auf gar keinen Fall tun oder sagen?
Von: Sarah Wagnerborst