Wer braucht Hilfe am dringendsten? Edda Neumeier erklärt, wie die richtigen Fragen in der Notaufnahme Leben retten – und wann sie besonders herausfordernd werden.
Edda ist Krankenschwester und arbeitet in einer Notaufnahme in Südniedersachsen. Dort ist sie für die Triage zuständig. Triage ist Französisch und bedeutet Sortierung. Das Wort wird im Gesundheitswesen genutzt, wenn man davon spricht, Patienten nach der Dringlichkeit ihrer Behandlung einzuteilen.
Redaktion: Edda, du arbeitest seit mehreren Jahren in einer Notaufnahme eines großen Klinikums in Südniedersachsen und führst dort die Triage durch. Du stellst Fragen, die im Ernstfall über Leben und Tod entscheiden können. Wie wird man Triage-Pflegerin, und welche Qualifikationen benötigt man dafür?
Edda: Erst einmal sollte man schon eine Art Expertise in der Notaufnahme haben. Man sollte dort also schon ein paar Jahre gearbeitet haben, und dann braucht man einen Weiterbildungskurs, in dem das System der Triage vermittelt wird.
Redaktion: Und dann kann man direkt starten?
Edda: Genau. Erst einmal läufst du dann noch mit Kärtchen herum, auf denen die Merkmale von unterschiedlichen Krankheitsbildern notiert sind. Irgendwann weißt du aber aus dem Kopf: Den Patienten kann ich erst einmal warten lassen; das ist eine Hochrisikosituation oder, im schlimmsten Fall, eine lebensgefährliche Situation. Die Karten mit den Fragen brauchte ich dann irgendwann nicht mehr, um entscheiden zu können, wie schwer meine Fälle sind.
Redaktion: Was ist denn die erste Frage, die du grundsätzlich allen Patienten stellst?
Edda: Meine erste Frage ist: „Wer war als Erster da?“ Meistens springen dann direkt schon viele auf, und ich muss erst einmal schauen, wem es augenscheinlich schon richtig schlecht geht. Genau deshalb braucht es auch schon ein wenig Berufserfahrung, bevor man bei der Triage anfangen kann. Ganz oft ist es nämlich so, dass dort jemand sitzt, der sich furchtbar krank fühlt, aber vielleicht nur eine Grippe hat. Direkt daneben sitzt dann jemand mit einer Herzfrequenz von 180 und findet das gar nicht so schlimm, weil er sich nach mehreren Tagen schon daran gewöhnt hat. Die erste Frage, die ich zu klären habe, ist also: „Warum ist jemand in der Notaufnahme?“
Redaktion: Gibt es denn einen Unterschied bei deinen Fragen, wenn ein Patient mit dem Rettungsdienst in die Notaufnahme kommt?
Edda: Also grundsätzlich gibt es da keinen Unterschied. Da stelle ich genau dieselbe Einstiegsfrage. Der Unterschied liegt eher in den Antworten auf meine Fragen. Die Patienten werden dort ja meistens vom Hausarzt, Rettungsdienst oder Notarzt eingewiesen, der den Menschen dann auch oft begleitet. Medizinisches Personal kann mir dann oft schon versierte Antworten geben, da muss ich nicht mehr so viele Fragen stellen wie bei einer Person, die keine Ahnung von Medizin hat.
Redaktion: Jetzt frage ich mich als Laie: Gibt es Menschen, die bei deinen Fragen lügen? Also es absichtlich so darstellen, als würde es ihnen schlecht gehen, um schneller voranzukommen?
Edda: Ich würde einem Patienten niemals unterstellen, dass er absichtlich lügt. Ich muss bei meiner Beurteilung absolut wertfrei sein. Außerdem denke ich nicht, dass jemand absichtlich lügen würde. Diese Menschen kommen in die Notaufnahme, weil sie sich ernsthafte Sorgen machen. Aber wenn sie dann erzählen, dass sie schon seit Wochen Bauchschmerzen haben und dann an einem Samstagnachmittag zu mir kommen, dann frage ich natürlich: „Was hat sich bei Ihnen jetzt so verschlechtert, dass Sie jetzt zu mir kommen?“ Besonders, weil wir am Wochenende nur eine bestimmte Notfallmedizin leisten können. Dann denke ich mir: „Warum ausgerechnet heute?“
Redaktion: Also gibt es solche Fälle eigentlich nicht?
Edda: Manchmal ist es Bequemlichkeit, weil es oft schwierig ist, einen Termin bei Fachärzten zu bekommen. Bequemlichkeit und Ignoranz. Denn eigentlich sollte man ja wissen, dass man mit Bagatellen das System aufhält, obwohl es vielleicht andere Menschen gibt, die dringender Hilfe brauchen. Dann geht es einfach nicht mehr so schnell voran, wie es sein müsste.
Redaktion: Kommen wir von den Bagatellen wieder zu den ernsten Fällen, besonders zu den peinlichen. Wenn es um die Region zwischen den Beinen geht, dann wird doch bestimmt häufig um den heißen Brei geredet, oder? Wie schaffst du da Vertrauen?
Edda: Also ganz ehrlich, das fällt mir nicht schwer. Die Patienten sagen mir nur ganz selten: „Ich möchte da mit einem Mann drüber sprechen.“ Denen ist es dann meistens auch völlig egal, dass sie mit mir als Frau darüber sprechen müssen.
Die Personen, die eher mit einem Mann als mit mir reden wollen, haben meistens einen Migrationshintergrund. Ich nehme das dann aber professionell und vermittle sie direkt an einen männlichen Kollegen oder direkt an einen Arzt. Das muss man dann einfach abhaken. In anderen Kulturkreisen ist das halt anders.
Redaktion: Wo wir gerade bei Migration sind. Sprachbarrieren sind in deinem Beruf doch bestimmt auch eine große Herausforderung, oder?
Edda: Sprachbarrieren sind natürlich ein immer größeres Problem in den letzten Jahren geworden. Ich kann zwar fließend Englisch, aber damit kommt man bei den Patienten oft nicht weiter. Meistens helfen mir dann Übersetzer-Apps. Da muss man zwar manchmal ein wenig interpretieren, was dir dein Gegenüber jetzt genau sagen möchte, das klappt aber ganz gut. Wenn dann doch alle Stricke reißen, dann haben wir den Vorteil, dass wir ein großes Krankenhaus sind und sehr breit international aufgestellt sind. Manche Mitarbeiter geben uns sogar ihre Telefonnummern, damit wir sie als Dolmetscher erreichen können. Das funktioniert ganz gut, aber es braucht halt auch immer etwas Zeit und Geduld.
Redaktion: Geduld ist ein gutes Stichwort. Brauchst du denn mehr Geduld, wenn du mit älteren Personen sprichst?
Edda: (überlegt kurz) Bei älteren Patienten passe ich die Häufigkeit meiner Fragen ihren Möglichkeiten an. Manchmal braucht es da auch eine gute Beobachtungsgabe, um herauszufinden, ob eine gestörte Wahrnehmung vorliegt oder vielleicht doch nur eine Schwerhörigkeit.
Redaktion: Kommt es denn auch vor, dass die Patienten gar nicht wissen, warum sie in der Notaufnahme sind?
Edda: Das kommt vor. Manchmal habe ich Patienten vor mir sitzen, die überhaupt kein medizinisches Wissen haben und dann nur mit einem Zettel von ihrem Hausarzt zu mir geschickt werden. Dann muss man eben versuchen, die Fragen so zu vereinfachen, dass auch totale Laien sie verstehen.
Redaktion: Okay, letzte Frage. Was war die lustigste Antwort, die du jemals bekommen hast?
Edda: (überlegt und lacht) Da gab es viele abstruse Sachen. Eine Sache, die mich aber noch bis heute begleitet, war eine Frau, die total schick und zurechtgemacht zu uns gekommen ist. Ich bin dann zu ihr hingegangen und habe sie gefragt, warum sie heute zu uns gekommen ist. Da holt sie ihr Handy raus und hält mir kommentarlos ihr Handy unter die Nase. Da war eine fürchterlich große Hämorrhoide drauf. Wenn ich da so im Nachhinein drüber nachdenke, dann bin ich bestimmt zehn Zentimeter zurückgesprungen, weil ich so entsetzt war. (lacht) Da rechnet man einfach nicht mit.
Von: Arved Mittelstädt