Fragen stellen, zuhören, verstehen: Ein Psychiater gibt Einblicke in die Kunst der Diagnostik, den Umgang mit Patienten und die Bedeutung von Transparenz.
Jan Weyerhäuser begann seine berufliche Laufbahn mit einer Ausbildung zum Bankkaufmann, bevor er sich dem Medizinstudium und der Facharztweiterbildung in Psychiatrie widmete. Heute ist er Chefarzt der Gerontopsychiatrie an der Rheinhessen-Fachklinik in Alzey und leitet zudem die Tageskliniken sowie die psychiatrische Institutsambulanz.
Dr. Jan Weyerhäuser
Beruflicher Werdegang: Ausbildung zum Bankkaufmann, Medizinstudium, Facharzt für Psychiatrie.
Aktuelle Position: Chefarzt der Gerontopsychiatrie in der Rheinhessen-Fachklinik Alzey.
Spezialgebiete: Diagnostik und Therapie in der Gerontopsychiatrie, Supervision und Leitung von Tageskliniken und Institutsambulanzen.
Berufserfahrung: Über 10 Jahre in der Psychiatrie, seit 2022 in leitender Funktion.
Leitmotiv: „Gezielte Fragen und Transparenz sind der Schlüssel zur Behandlung.“
Welche Art von Fragen spielen in deinem Beruf die wichtigste Rolle?
Im Moment sind es eher Fragen nach Entscheidungen, vor allem über Medikamente, aber auch über freiheitsentziehende Maßnahmen für Patienten. Zusätzlich liegt ein großer Fokus auf der Überwachung der ärztlichen Kollegen. Es werden viele Fragen zu den aktuellen Behandlungen und zur Weiterbildung gestellt: Inwiefern meine Assistenten meinem Standard entsprechend arbeiten, ob sie die Rechtsgrundlagen einhalten und ob sie im Rahmen ihres Weiterbildungs-Curriculums engagiert sind. Häufig sind die Fragen, die ich stelle, geschlossene und selten offene Fragen. Meistens ist es mir wichtig, konkrete, kurze Antworten zu erhalten, denn in der Psychiatrie kann man sich schnell in vielen Antworten verlieren.
Gibt es bestimmte Techniken oder Methoden, die dir dabei helfen, durch gezielte Fragen die richtigen Diagnosen zu stellen?
Absolut, in der Psychiatrie gibt es standardisierte Leitfäden, die helfen, Patienten gezielt zu befragen. Dabei geht es vor allem darum, wie sie sich selbst und andere wahrnehmen und wie ihr Denken funktioniert, zum Beispiel ob sie schneller oder langsamer denken als gewöhnlich. Es sind Fragen, die teils geschlossen, teils offen sind, um zum Beispiel die Orientierung, Abstraktionsfähigkeit, Auffassung, Konzentration und Warnsymptome zu prüfen und natürlich auch nach der Eigen- und Fremdgefährdung, sprich Suizidalität, zu fragen.
Gibt es auch Situationen, in denen die Patienten den Fragen ausweichen oder nicht antworten, und wie reagierst du dann?
Ja, das kommt vor. In der Psychiatrie ist es so, dass wir neben der Befragung der Patienten auch deren Verhalten beobachten. Wenn ein Patient zum Beispiel mit einem traurigen Gesichtsausdruck sagt: „Ich bin glücklich, das Leben ist schön“, würden wir das als Psychiater hinterfragen. Wir prüfen, ob das Verhalten mit den Aussagen übereinstimmt. Wir befragen unsere Patienten und schauen ihnen nicht direkt in den Kopf. Wir stellen konkrete Fragen und gehen davon aus, dass der Patient uns in erster Linie die Wahrheit sagt. Wir schauen auch darauf, ob der Patient seine Krankheitssymptome verdeutlicht oder ob er Symptome darstellt, die nur erfunden sind. Das ist im Erstgespräch noch nicht immer eindeutig, aber deshalb sind die Patienten ja bei uns stationär, um das Verhalten und die Aussagen des Patienten zu überprüfen.
Wie nutzen Sie nonverbale Signale, um das Verhalten eines Patienten zu interpretieren und die richtige Ansprache zu finden?
Ja, die nonverbale Kommunikation ist ein wichtiger Bestandteil. Wir achten sehr darauf und versuchen aus den Beobachtungen Rückschlüsse auf das Denken und Leben des Patienten zu ziehen. Das lernt man durch die wiederholte Exploration mit den Patienten und die Behandlung im Berufsalltag. Patienten mit psychischen Ausnahmezuständen, sei es Depressionen oder Psychosen, verhalten sich in der Regel nicht sozial konform. Wenn ein Patient zum Beispiel mitten im Satz aufhört zu sprechen und den Blick zur Decke richtet, ist das ein Signal, bei dem wir als Psychiater nachfragen und das Verhalten direkt beurteilen. Ich stelle dann eine Frage wie: „Sie haben aufgehört zu sprechen, Sie wirken abgelenkt. Hören Sie Stimmen?“ Ich versuche, das Verhalten direkt zu reflektieren und transparent zu kommunizieren. Alles, was ich in der Psychiatrie mache, kommuniziere ich offen und transparent mit den Patienten, sei es bei der Medikation oder der Diagnose. Ich möchte die Patienten motivieren, mit mir gemeinsam an ihrer Problematik zu arbeiten.
Wie fördern Sie den Austausch mit Patienten und stellen sicher, dass sie sich verstanden und gut aufgehoben fühlen?
Es ist ganz wichtig, dass wir die Patienten ermutigen, Fragen zu stellen. Im Rahmen unserer Exploration bitten wir sie, uns Fragen zu stellen, wenn sie etwas nicht verstehen. Wenn das Gespräch beendet ist, frage ich immer noch einmal: „Habe ich das richtig verstanden? Gibt es noch Fragen, die Sie an mich haben?“ Das fördert den Beziehungsaufbau, und der Patient hat das Gefühl, dass er gehört wird. Dadurch wird man als Arzt greifbarer und wirkt authentisch und interessiert.
Du hast auch Patienten mit Alzheimer. Wie gehst du mit Situationen um, in denen sich Patienten nicht an Ereignisse oder Informationen erinnern können?
Wenn Patienten sich nicht an die Situation oder die Gründe erinnern können, warum sie in der Klinik sind, ist das für uns in der Psychiatrie ein Teil der Diagnostik. Wir fragen dann gezielt nach den Ereignissen unmittelbar vor der Aufnahme, nach den Gründen für den Aufenthalt, zur Merkfähigkeit des Kurzzeitgedächtnisses und der Orientierung. Wir überprüfen auch das Allgemeinwissen des Patienten. Wir verwenden auch standardisierte Fragebögen, um Hinweise auf kognitive Defizite zu finden. Diese Tests geben zwar keinen direkten Hinweis auf die Diagnose Alzheimer, aber sie unterstützen die weitere Diagnostik.
Versuchst du mit umkreisenden Fragen an die eigentliche Frage zu gelangen?
Nein, das ist in der Psychiatrie selten der Fall. In der Psychiatrie ist offene und direkte Kommunikation essenziell. Zum Beispiel frage ich Patienten direkt nach ihrem Gemütszustand: „Wie fühlen Sie sich?“ oder „Haben Sie Suizidgedanken?“ Studien zeigen, dass solche direkten Fragen oft Erleichterung bringen und ehrliche Antworten fördern, ohne den Gedanken an Suizid zu verstärken. Wenn ein Patient zögert oder unklar antwortet, hake ich nach, z. B. „Was meinen Sie mit ‚eigentlich‘?“ oder „Gibt es Zukunftsperspektiven, für die es sich lohnt, zu leben?“ Indirekte, umständliche Fragen verwirren eher und wirken, als würde man dem Patienten misstrauen. Direkte Fragen sind daher entscheidend für eine klare Diagnostik.
Die meisten Patienten wollen dann bestimmt auch einfach ein offenes Ohr haben, oder?
Ja. Viele Patienten in der Psychiatrie sind stark stigmatisiert. Wenn sie dann noch mit jemandem sprechen, der nicht transparent ist, nicht authentisch wirkt und keine gezielten Fragen stellt, um auf sie einzugehen, entsteht keine Bindung, und sie fühlen sich nicht gehört. Der Beginn einer psychiatrischen Exploration sollte mit einer offenen Frage wie „Warum sind Sie hier?“ beginnen und dem Patienten Zeit geben, seine Sichtweise zu erläutern. Danach folgt eine schrittweise Befragung, bei der man auch erklärt, warum man bestimmte Fragen stellt. Zum Beispiel kann das Fragen nach Stimmenhören irritierend sein, weshalb ich vorab erkläre, dass viele Menschen das erleben. So nehme ich dem Patienten die Hemmung, und er fühlt sich nicht abgestempelt. Danach stelle ich gezielte, konkrete Fragen, wie „Hören Sie Stimmen?“ oder „Haben Sie das Gefühl, jemand spricht mit Ihnen?“
Wie wichtig ist es, den Angehörigen die richtigen Fragen zu stellen, um ein umfassendes Bild von der Situation zu erhalten?
Jede psychiatrische Anamnese umfasst auch eine Fremdanamnese, wofür jedoch die Schweigepflichtsentbindung des Patienten notwendig ist. Wenn der Patient nicht einwilligungsfähig ist, kann dies schwierig sein. Fremdanamnesen sind besonders wichtig, da Patienten oft in Ausnahmezuständen wie akuter Suizidalität oder schwerer Depression vorgestellt werden. Ohne Informationen über ihr vorheriges Verhalten im Alltag ist es schwer, den Behandlungserfolg zu beurteilen. Zu Beginn sollte man gezielt Fragen zu Krankheitssymptomen und dem Verhalten vor der Auffälligkeit stellen, z. B. „Wie war der Patient im Alltag?“ oder „Wie war die Interaktion mit Ihnen?“ Biografische Details, wie Kindheitstraumata, können später geklärt werden, doch zu Beginn liegt der Fokus auf der aktuellen Behandlung und den relevanten Vorinformationen.
Was hast du persönlich aus deinem beruflichen Umgang mit Fragen gelernt?
Ich habe gelernt, Fragen zu stellen und geduldig die Antworten zu hören, ohne zu unterbrechen. Wichtig ist, die Antworten als authentisch anzunehmen, da ich nicht in den Kopf meines Gegenübers schauen kann. Statt zu interpretieren – sei es Blicke oder Körpersprache – frage ich bei Unklarheiten nach, um sicherzugehen, dass ich richtig verstanden habe. Ich entscheide, ob ich mit einer Antwort leben kann. Falls nicht, stelle ich gezielt weitere Fragen, ohne eigene Annahmen zu übertragen. In meiner Weiterbildung und Selbsterfahrung habe ich gelernt, bei mir zu bleiben und Irritationen offen anzusprechen.
Gibt es eine Frage, die du dir selbst in deiner Karriere immer wieder stellst?
Ja, die gibt es: Bin ich an der richtigen Stelle? Diese Frage stelle ich mir in meiner Karriere öfter, denn ich möchte ja auch Spaß an meinem Beruf haben und mich weiterentwickeln.
Von: Philipp Weyerhaeuser